Das Tor des Krankenhauses fiel hinter Georg Weidenbach ins Schloß. Er hüstelte, als er die rauhe Straßenluft einatmete, und stülpte den Mantelkragen in die Höhe. Und schon schlug er, fast automatisch, jenen Weg ein, den er in tausend Träumen und Phantasien während seines Krankenlagers gegangen war. Er verlor sich rasch im Gewimmel jener endlosen Straßenzüge, die quer durch die Stadt nach dem Alexanderplatz führen. Hier, am Alexanderplatz, war in einem Warenhaus seine Geliebte als Verkäuferin tätig, Christine, "der schwarze Teufel mit den Augen eines wilden Hengstes", wie der Zeichner Katschinsky sie genannt hatte. Seine Geliebte, und wenn man wollte, seine Frau. Oder durfte er sie nicht so nennen? Nach all dem, was sich zwischen ihnen ereignet hatte? Und das war, bei Gott, nicht alltäglich!
Trotz der Knappheit seiner Barschaft, die zu äußerster Sparsamkeit mahnte, hätte Georg wohl die Elektrische nehmen können, aber er empfand es als eine Art Wollust, diese Stunde zwischen der Entlassung aus dem Krankenhaus und dem Wiedersehen mit Christine bis auf die letzte Minute und Sekunde auszukosten.
Ja, nun kam er also, treibend in diesem Strom hastender Menschen und jagender Wagen, und sie sah ihn nicht! Sie ahnte es nicht, daß er, Schritt für Schritt, immer näher kam. Würde sie zu Boden sinken? Er lächelte mit geweiteten Augen, ein erregtes, fast verzücktes Lächeln, aber so elend hatte ihn die Krankheit gemacht, daß sein Lächeln wie eine Grimasse des Schmerzes aussah. Er keuchte leise. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, die Knie zitterten ihm.
Das lange Krankenlager hatte ihn der Gegenwart entfremdet. Menschen, Stimmen, Gesichter, Gebärden erschienen ihm fremd, als sei er nach Jahrzehnten in diese Stadt zurückgekehrt, als sei er verändert in sie zurückgekehrt. Das monatelange Rauschen des fiebernden Blutes hatte seine Sinne verfeinert, so daß er Bewegung und Lärm um vielfaches verstärkt empfand. Die Straße jagte, die Straße donnerte, und fast überkam ihn eine Beklemmung.
Menschen und Gefährte schienen von einem wilden Strom fortgerissen zu werden, sie glitten und schossen vorüber, um in den Wirbel der Seitenstraßen geschleudert zu werden. Funken stoben aus den Rädern, blaues Feuer spritzte durch die nasse Luft. Omnibusse, mit Menschenleibern dicht beladen, Gesicht an Gesicht, bleich und fahl, schwankten wie Schiffe in den Strudel der Plätze, wo sie auf und ab stampften wie auf hoher See, und versanken. Der Boden zitterte und schwankte, die Luft gellte ...
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Título : Die Brüder Schellenberg
EAN : 9783755784586
Editorial : Books on Demand
Fecha de publicación
: 13/1/22
Formato : ePub
Tamaño del archivo : 1.76 mb
Protección : Aucune
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